Es ist der 29. Oktober abends, ich esse draußen auf dem Balkon und lasse es dunkel werden. Der Verkehr rauscht irgendwo dahinten, aus dem Stadion ab und an ein Schrei. Es ist immer noch warm. Frau Mama schrieb heute über diesen seltsam warmen Herbst in Berlin. Textsorten, die es die nächsten Jahren geben wird, von denen, die sich noch erinnern, was vorher war.
Ich habe das ganze Wochenede bis einschließlich Dienstag frei. Jetzt stellt sich auch die Ruhe ein. Was ich denn mit dem langen Wochenende machen würde, werde ich gefragt. Nüschts, sage ich und finde das größartig. Schreibe mit G. auf Threema, die ich sehr lange nicht gesprochen habe und bei der Zusammenfassung dessen, was alles passiert ist, merke ich, dass es mir gut geht. Jetzt. An diesem Punikt.
Elon Musk hat Twitter gekauft. Viele, denen es schon lange nicht mehr passte, nehmen das als Anlass nach Mastodon zu wechseln, ich auch. Ich werde weiterhin ab und an lesen, vor allem der internationalen Kontakte wegen. Aber vielleicht soll der Blick auf wieder mehr ins Regionale gehen, vielleicht ist jetzt die Zeit, who knows.
Wir können den Oktober jetzt zuklappen, der November wird eine Reise bringen, aber erst an seinem Ende. Bis dahin darf es gern etwas still bleiben.
Die Herbst-Handlungen: Briefe und Karten schreiben (und zeichnen), Bücher lesen, Serien auf Netflix schauen, Kürbis kaufen, ein Gulasch kochen, Liedtexte von Fairouz auswendig lernen. Ich schreibe einen längeren Brief an M. und realisiere, in was für einer Mausradbewegung ich mich eigentlich befinde. Ausdünnen also. So weit das möglich wäre: An den Wochenenden noch eine Sanitätsübung, ein Erste-Hilfe-Kurs, ein Besuch in Hamburg.
An einem Freitagabend stolpere ich per Zufall über Tank 9 – ein Industrial Dancer und Youtuber, der offensichtlich irgendwann komplett von der Bildfläche verschwunden ist. Ich hatte ihn schon vergessen. Noch nach Jahren laden irgendwelche Leute seine Videos hoch. Irgendwann schreibe ich eine Hommage an alle, die das Netz mit ihrem Scheiß wunderbar machen. Trotz alledem. And to hell with the silcence we are living in.
Traurige Musik-Nachrichten: Die Auflösung von Mashrou Leila. Die Band hat mich gut 10 Jahre begleitet. Sie war der Sound des Arabischen Frühlings. Die Morddrohungen gegen die Band (auch gegen das Publilum), Corona, die Bankenkrise im Libanon. Die beiden letzten Konzerte, die ich besucht habe, waren Mashrou Leila Konzerte. Einmal Heidelberg, einmal Köln. Ich war mir so sicher die Band noch einma zu sehen. Zwei Wochen später stirbt dann Ahmed al Shaiba bei einem Autounfall in New York. Er war ein bekannter Oud-Spieler in der amerkanischen Jemeniten-Community. Im August hatte er sein erstes Album veröffentlicht.
Telefonieren, WhattsApp-Nachrichten schreiben. Die Mutter erinnert sich nicht, was sie letzte Woche noch wollte, bei Bruder und Schwägerin ist immer alles schwierig. Ich soll das alles koordinieren (oder mache es, weil sonst nichts zustande kommt), 600km weiter weg.
Habitustransformationen: Was ich machte, als ich entfristet wurde: 1. Mich in den Personalrat wählen lassen (Yalla Klassenkampf!) & 2. ehrenamtlich Sanitäterin werden. Was man mir häufig übel nimmt, ist nicht die Herkunft aus bildungsfernen Schichten, sondern die Weigerung, das zu kaschieren. Also das doch zumindest mit Scham zu behandeln.
25 Jahre später: Natürlich hat er zugenommen, ist älter geworden. Wir treffen uns am Schanzenbahnhof, obwohl wir beide uns hier gar nicht mehr auskennen. Mir kommt seine Sprache seltsam vor, als würde er irgendwie nuscheln. Ich mag nicht fragen, ob er etwas hat, ein Gebiss vielleicht. Eineinhalb Stunden später sagt er: Ich hatte letztes Jahr einen Schlaganfall. Es sei nicht so wie alle immer sagen, man würde es gar nicht merken. Er hätte einen lauten Knall in seinem Kopf gehört, dann hätte er sich übergeben. Zum Glück waren die Kinder da, er kam schnell ins Krankenhaus. So nah sind diese Dinge jetzt also. Danke, dass Du an mich gedacht hast, sagt er später, als wir am Schlump auseinander gehen. Die Begegnung hängt mir noch nach.
Am nächsten Tag Familie dann: Ich habe ein schlechtes Gewissen, was meine Ungeduld betrifft. Und dass ich mehr für sie Liebe haben sollte. Sie hatte sicher auch keine Lust meine Windeln zu wechseln. Aber alte Menschen und kleine Kinder strengen mich an. Und sie ist eben auch in Vielem schwierig und verklärt ihre Kompliziertheit als Eigenständigkeit. Und ihre Negativität kostet mich bei jedem Treffen Kraft. Mein Bruder ist schlecht, meine Schwägerin ist schlecht, ihr Lebensgefährte ist schlecht, der Urlaub war schlecht, I. ist schlecht und S. sowieso (undsoweiterundsoweiter). Zum Schluss schon lustlos die Fahrkarte für die nächste Runde gebucht. Wieder denken: Ich sollte froh sein, wenn ich sie überhaupt nochmal lebend sehe.
Schönes und Entspannendes: Ein Hörbuch auf Youtube von einem Menschen, dem ich per Zufall auf einem Kongress über den Weg lief. Spannende Geschichte, die sich selbst nicht überernst nimmt. Ich komme noch immer nicht über den wildgewordenen Elefanten hinweg :D. Seltsame Begegnung sowieso: Auf dem Kongress erst gedacht: Gute Güte, was ist das denn für ein blöder Schönling? Google sagt mir dann: Achso, der ist gar nicht blöd. Wie funktioniere ich eigentlich? Spannendes zu Lern- und Lernbiographien auch. Biographieforschung hat mich ja schon immer interessiert und Lernen sowieso. Jaja, schon gut,ich tue Buße…