Vom Wochenende + 2 Tage

Weil die Wahl in Frankreich so unsäglich ist, betreibe ich Realitätsflucht mit einer Dokumentation über Peter Lindbergh. Besonders beeindrucken mich die Bilder von Anna Nicole Smith, die ich als Person komplett verdrängt hatte. Ein Playboy-Bunny, das bei H & M-Werbung machte und vor allem Schlagzeilen, weil sie einen 89jähringen heiratete, der ihr nie ietwas vermachte. Lindbergh schaffte ihre Würde zu zeigen. In keinem seiner Bilder sieht ein Model aus wie ein Objekt, es gibt nur Subjekte. Bestelle also ein Buch.

Samstag das erste Mal seit langer Zeit wieder einen Erste-Hilfe-Kurs gegeben. Zwei Kameraden aus Kaiserlautern sind dabei, die hospitieren. G. ist am Anfang etwas nervös, ist aber ein großer Entertainer. Wir spielen uns die Bälle gegenseitig zu. Am Abend endlich ein Gewitter. Ich sitze auf dem Balkon und versuche Blitze zu fotografieren, so verpasse ich das Spiel. Mich am Sonntag weiter durch den Ratzinger gequält, der mir nicht liegt, aber ich habe mir vorgenommen, ihn durchzulesen.

Am Montag hole ich die Vespa ab, die bereits abends wieder den Geist aufgibt. Ich komme problemlos zur Abtei, schaffe aber auf dem Rückweg nicht mehr als 20 km/h. Herr X. reicht zudem nicht ein, was er hätte einreichen sollen und so kann ich nicht weiter arbeiten – Wut lässt mich die halbe Nacht nicht schlafen, als hätte irgendjemand etwas davon. Morgens wieder in die Werkstatt und ein Telefonat mit Herrn X., das mich ein wenig ruhig werden lässt. Zum Mittag Gespräch mit A. wie es sein kann, dass die Menschen ihre hart erkämpfte Freiheit so gerne wegwerfen. Sie meint, Europa sei im Abstieg und die Leute wissen das. Und das sei eben ihre Reaktion. Zum Feierabend lese ich einen schönen Satz, der von mir hätte sein können: „Für mich ist es so, dass das Leben immer spannend ist, weil ich dieses Überraschungsherz habe.“

Enger September

Ein viel zu voller September von dem ein Plakat, ein neues Beratungsformat, eine Bescheinigung als Sanitäterin und ein neuer Mitarbeiter zurückbleiben werden. Für den Rest des Jahres nichts mehr auf den eh schon gut gefülltem Kalender packen, aber -jaja- schnell noch „Rom“ vielleicht. Nach der Wahl der Faschisten dann das Unwohlsein bezüglich dieser Entscheidung.

Jede/r projiziert in die Prosteste im Iran das hinein, was ihm/ihr am nächsten ist. Für mich ist es die Tishreen-Revolution im Irak 2019. Die Toten, die wochenlange bizarre Gewalt. Tränengasgranaten werden direkt in die Köpfe der Menschen geschossen. Das Internet immer wieder abgeschaltet, viel zu wenig Reaktionen in den Medien. Wochenlange Versuche zumindest auf Twitter eine Öffentlchkeit herzustellen. Ich habe die Videos der rauchenden Köpfe gesehen. Etwas ist kaputt gegangen damals, was nicht repariert werden kann.

Was deprimiert: Der unterschwellige Gedanke, dass auch dieser Protest scheitern wird. Das ist nicht gut.

Meditiere seit langer Zeit mal wieder regelmäßig, ruhiger und fokussierter deshalb. Die irrwitzige Wut, die den Sommer immer wieder mein Begleiter war, reduziert sich auf ein erträgliches Maß. S. und A. sprachen mich schon darauf an: Meine ständigen Konfrontationen wären nicht zielführend. Im Grunde sind es Distanzierungstechniken: Ich kann die Wut auf einen Tisch neben mich legen und anschauen. Das erste was sie ausspuckte war eine Liste an Tritten, begonnen bei der Tishreen-Revolution bis heute. Mal sehen, was noch kommt.

Handfestes und Wärmendes: Theorie mit 35/35 richtigen Fragen bestanden, zwei Szenarien (Nesselverbrennung/Bauchverletzung) und Herz-Lungen-Wiederbelebung mit Guedel- und Larynxtubus bestanden. Jetzt offiziell Sanitäterin. Es gilt also die Freistellung bei Aufgaben der Gefahrenabwehr und der Nothilfe. Mir privat eine Beatmungsmaske und ein manuelles Blutdruckmessgerät zugelegt. Im Einsatz wird nur manuell gemessen, was man üben muss. Es lärmt um einen herum und das „klackern“ des Blutdruckes ist nicht leicht zu hören. Die Beatmungsmaske habe ich lieber, weil ich auf direkte Mund-zu-Mund-Beatmung während Corona gut verzichten kann (und eigentlich auch sonst immer).

Von der Grünzeugfront gibt es wenig Neues: Gewachsen ist eine Platterbse aus Samen. Für Setzknoblauch bin ich zu spät, der Gärtner empfiehlt mir einfach Knollen aus dem Supermarkt. Ich setze acht Zehen, sowohl gespannt als auch skeptisch. Die Chili-Pflanzen, die ich letztes Jahr aus einfachen Samen der Supermarkt-Schoten gezogen habe sind eher kümmerlich.

Zuletzt: Mein Arabisch-Konversations-Kurs entfällt wegen Teilnehmermangel, va bene perché posso imparare di più l’italiano. لكني أيضا أحب اللغة العربية كثيرا

Der Stand des Krieges

Wir sprechen jetzt von früher. Der Ölkrise. Vom Wärmeflaschen im Bett und Eisblumen an den Fenstern. Von Bädern ohne Dusche und dem Klo halbe Treppe. Von Badewasser, das mehrere Personen nutzten. Ich recherchiere, wie man Strom spart, aber die meisten der Tipps setze ich schon um. Die Jugend ist ohne Verzicht aufgewachsen, sagt K. Soll man Verzicht verklären? Ich fürchte weniger den materiellen Mangel als die sozialen und menschlichen Verwerfungen. An vielen Stellen sind sie schon da.

Ich _will _ mich kümmern und es ist auch politisch geboten. Manchmal zynisch, dass die Welt sich ihrerseits wenig um mich kümmert. Über Personalratsarbeit kann ich vielleicht etwas abzufangen. Sanitäterin bin ich ab September und ggf. dann einsatzfähig. Mehr zur Lage kann ich ggf. nicht beitragen. Ich frage mich, wie andere sich vorbereiten. Aber es scheint: Niemand. Alle genießen den Sommer. Verständlich, die P. sagt: Genießen wir, so lange wir noch können… Aber ich kann nicht wirklich abschalten. Gepaart mit schlechtem Gewissem, nicht ausgelassen zu sein. Wann solltest Du denn sonst auftanken, hm? Erinnerungen an die Beschreibungen aus Kästners Tagebuch: Im Krieg erst recht feiern.

Ich erinnere mich an die R.’s Erzählungen. In Aleppo standen sie nachts auf, um Wäsche zu waschen, denn es gab nur stundenweise Strom, manchmal eben auch nur nachts. Wir witzelten noch: Bald geht es Dir wieder so, nur, dass es eben kein Witz ist. Die Deutschen sind wie Schafe, die nicht glauben wollen, dass ihnen das passiert. Erinnerungen an die Memoiren von Simone de Beauvoir. Die Zeit vor dem 2. Weltkrieg, wo auch alle dachten: Es wird nicht so weit kommen. Trotzdem selbst zuweilen verstört, dass sich meine Realität immer mehr der meiner irakischen und syrischen Freunde anpasst.

Wenn D. da wäre, könnte er die Inflation erklären, überhaupt all die wirtschaftlichen Zusammenhänge, die ich nicht verstehe.

9-Euro-Ticket 1

Noch bevor es begomnen hat, schreibt die Presse das 9-Euro-Ticket kaputt: Wie schrechlich doch diese überfüllten Züge sein müssten, überhaupt, neue Zielgruppen würden nicht erschlossen, man müsse auch an die Menschen auf dem Land denken, denen bringe das Ticket ja überhaupt nichts. Und so weiter.

Das Pfingstwochenende startet mit einem persönlichen Tritt und einer langen Sitzung mit einem Infizierten, arbeitete sich dann aber mit einer netten Hospitation bei einem Erste-Hilfe-Kurs am Samstag langsam hoch. Wir hocken in einem Container des ASB in Ehrang, der im Rahmen der Flutkatastrophe dort auf dem Kirchvorplatz aufgebaut wurde und weiterhin als Begegnungsstätte genutzt wird. Ich merke, dass ich immer mehr Routine bekomme und das meiste schon selbstständig beantworten kann. Irgendwas ist letzt Woche mit meinem Rücken passiert und so rede ich meistens im Stehen und merke, dass es nicht so gut kommt, mich als Demonstrationsobjekt, das man durch die Gegend hebt und zieht, zur Verfügung zu stellen.

Pfingssonntag endlich der lang erhoffte Regen. Die Luft ist wunderbar, der Tag ansonsten ereignislos. Ein bisschen spazieren, ein wenig kochen, ein wenig Netflix.

Pfingstmontag teste ich dann endlich das 9-Euro-Ticket Ich warte die ganze Zeit darauf, dass jemand mein Ticket des Hamburger Verkehrsverbundes anschaut, aber in der RB71 nach Homburg kontrolloert natürlich niemand, wie hier in den Reginalbahnen eh niemals kontrolliert wurd, seltsamerweise aber in den Regionalexpressen. Der Zug um 9 Uhr ist fast komplett leer, auch auf der Rückfahrt gegen 12:30 Uhr ist der Zug belegt, aber weit entfernt von irgendeiner Überfüllung.

Ich laufe zum Schloss Saarfels hoch, das sich leider auf einem geschlossenen Privatgelände befindet. Das Internet benennt es wahlweise als Hotel, aber auch als Ferienwohnung. Immerhin finde ich eine Seite, die die alte Inneneinrichtung zeigt. Interessamterweise ist das Gebäude nur im Stil der Burgenromantik gebaut, aber mit einem Erbauungszeitraum von 1912-14 nicht wirklich alt. Ich kann nicht rausfinden, wem es gehört, aber offensichtlich stand es 2015 mal zum Verkauf und die Immobilienfirma beschenkt uns mit diesem tollen Werbevideo:

Weiter geht es zum Hofgut Serrig auf dem 160 Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen arbeiten. Auf dem Gelände befindet sich auch eine alte Feldbahn, die aber nur sonntags in Betrieb ist. Fazit: Für einen Halbtagesausflug gut geeignet. Der nächste 9-Euro-Tripp geht nach Frankfurt.

Im März

Zwei volle Wochenenden von 9-17 Uhr mit der Sanitätsausbildung verbracht. Dann stolze Beseitzerin eines SAN-A-Scheins (Sanitätshelferin). Ich hatte vor der praktischen Prüfung Angst, theoretische Inhalte verinnerlichen ist ja doch Tagesgeschäft. Die ganze Zeit über sehr viel Respekt vor der Sauerstofflasche, ein neben mir liegender Gefahrenstoff. Die praktische Prüfung bestand im ersten Teil aus einer Herz-Lungen-Wiederbelebung mit angelegtem Guedeltubus, Beatmungsbeutel und angeschlossener Sauerstofflasche. Man arbeitete in Zweierteams. Der zweite Teil der Prüfung war ein zugelostes Fallbeispiel, in unserem Fall einem Mann, der sich einen Schraubenzieher durch die Hand gestochen hatte. Notruf absetzen, Schraubenzieher mit Verbänden stabilisieren, dass er nicht wackeln kann und Hand ruhig stellen (Niemals etwas aus dem Patienten rausziehen , ggf. Verblutungsgefahr bei beschädigten größere Aterien oder Venen oder gesplitterte Knochen werden weiter verteilt etc. – macht dümmstenfalls alles schlimmer => Sache des Krankenhauses,) beruhigen und Verletzung so abdecken, dass er es nicht sieht, sitzend angelehnt aufrecht lagern (kippt ggf. um, wenn ohnmächtig vor Schmerz), Lebensfunktionen regelmäßig kontrollieren. Verbände sind ja mein Lieblingsthema, insofern ging das gut.

Am Montag davor Frau Hotel Mama und ihr Fahrrad an der Porta Nigra getroffen (Sie berichete davon). Es ist schweinekalt und hätte ich das gewusst, hätte ich doch fleißig geputzt und einen guten Kaffe serviert. Jetzt muss es eben so gehen. Man hat sich viel zu erzählen und das Gespräch schläft nicht ein, es passst also. Wir schauen das, was man in Trier so schaut: Dom, Liebfrauenkriche, Viehmarkttherme, Palastgarten und die Kaisertherme. Mein Trier ist tatsächlich am ehesten mein Straßenbett, das ich ihr zum Schluss zeige. Es gibt noch nicht viel zu sehen, es friert in den Nächten noch zu doll. Aber heute habe ich ein paar Hornveilchen gepflanzt. Auf der Fensterbank in den Vorziehtöpfen machen sich die Petunien und Malven gut, aber die Zinnien wollen nicht.

Krieg und Sanitäter

Unsortiertes zum Krieg:

  • Dieser Krieg wird lang und hässlich.
  • Die Propaganda von allen Seiten, hier vor allem: das Romantiseren des Krieges. Der junge, heldenhafte Präsident. David gegen Goliath. Der verrückte Putin.
  • Twitter noch schlimmer als sonst schon. Die Rechthaberdiskussionen bei denen es nur noch um Positionen geht, um die es sowieso schon immer ging und die Betroffenen kommen nur noch am Rande vor.
  • Presse noch schlimmer. Wie 10mal erklärt wird, dass Putin ja nicht gewinnen könne. Ist das so? Oder wird die Ukraine gerade verwurstet? Von der russischen Propaganda bekomme ich wenig mit, wird aber kaum besser sein.
  • Das ist jetzt der Punkt an dem ich nach 2 Jahren wirklich erschöpft bin.
  • Viele haben schräge Träume.
  • Viele machen konkrete Pläne wohin sie gehen können, wenn der Krieg auch hierher kommt. Ich habe einen Notfallrucksack, immerhin.
  • Der widerliche Rassismus. Die guten und die bösen Flüchtlinge.
  • Bisschen verwirrt, dass einige Migras zu dem Land in dem sie leben tatsächlich keinen Bezug haben und auch die Geschichte nicht kennen. Niemand geht davon aus auch hier ggf. auch nicht sicher zu sein.
  • Die Alten stecken es schlecht weg.
  • Nachrichten wie: NordStream 2 wartet keiner mehr, aber da ist schon Gas mit Druck drin. Angriff auf größtes Atomkraftwerk.
  • Als ob alles immer nach der gleichen Regie abläuft: Die Zivilgesellschaft darf jetzt wieder antreten und sich um die Opfer kümmern. Und natürlich machen das alle, was sollte man auch sonst tun?
  • Weiß nicht, warum ich daran denken musste, aber der beste Flug, den ich jemals hatte, war von Hamburg nach Kiew mit der russischen Fluggesellschaft Aeroflot.
  • Weiter funktionieren.
  • Ich habe eben eine Kategorie „Krieg“ erstellt, das kommt mit immer noch nicht real vor.

Lichtblicke: Am Wochenende endlich der Sanitätskurs A auf den ich seit zwei Jahren warte. Auch wenn ich eigentlich kaputt bin. Besuch aus Berlin von Frau Mama am Montag. Freue mich.

Am Ende

Das Jahr beginnt sich zu neigen und ich beginne mit End-Jahres-Aktivitäten. Überlegt, den Stahl-Weihnachtsbaum bald aus dem Keller zu holen, der 1. Advent ist schon am 19. November (Edit: Stimmt gar nicht, da beginnt der Trierer Weihnachtsmarkt, das habe ich vertüddelt). Durch meinen Stapel an Notizbüchern gegangen und überlegt, welches das Tagebuch 2022 werden soll. Lasse es Twitter entscheiden, letztes Jahr war es Facebook. Überlege, ob ich mir das Passionsblumen-Parfum selbst zu Weihnachten schenken soll und was ich mir sonst noch schenken wollen würde. Ein Weihnachtsgeschenk für meine Mutter gemacht, ein bemalter Kaffeebecher, den sie sich gewünscht hat. 2021 kommt mir im Rückblick so ereignislose vor, obwohl das nicht stimmt, ich bin einige neue Dinge angegangen. Ich frage mich immer noch, ob die Pandemie einen Schaden im Selbstwirksamkeitserleben hinterlässt, jedenfalls kommt es mir so vor.

Gestern A.’s Geburtstag gefeiert, sie macht Dumplings, die M. nicht essen will, aber die wir beide lieben. Er ist auf irgendeinem Fußballspiel im Saarland und so können wir trinken und kitschige, englische Fernsehserien sehen. Ich bin auch dankbar für die Tipps, denn Winterzeit ist Serienzeit. Im Sommer schaue ich so gut wie nichts und einen Fernseher habe ich seir 20 Jahren nicht mehr. Aber im Winter grabe ich mich gern ein und schaue abends ein paar Folgen. Ich bringe A. rote Nelken und ein Kochbuch, weil sie sich eines gewünscht hat, und offensichtlich treffe ich die richtige Wahl. Bücher sind immer schwer als Geschenk. A. ist jemand, dem ich durch die Pandemie näher gekommen bin. Du bist eine der wenigen guten Sachen dieser Pandemie, sage ich ihr. Auf dem Rückweg besoffen einen Schlüssel verloren, den ich aber zum Glück auf dem Parkplatz vor dem Haus wieder finde. Die dazugehörige Vespa hatte schon am Vormittag den Geist aufgegeben, irgendwie nicht mein Tag.

Heute Morgen Telefonat mit S., die mich beim Erste-Hilfe-Ausbilder-Kurs anmelden wird. Ein Freizeitpark möchte darüber hinaus einen Kurs für seine Angestellten mit speziellen Tier-Risiken, aber vermutlich nicht vor Frühjahr. Das Ehrenamt verbandelt mich mit Trier, das sich immer noch (10 Jahre!) oft wie ein Hotelzimmer anfühlt. Die DLRG gehört zu den besseren Erfahrungen, die ich gemacht habe.

Hamburg, Ende Oktober I

Unerledigtes schafft nur ein paar Stunden Schlaf und in dem Netzloch zwischen Koblenz und Frankfurt versuche ich noch einiges zu regeln. Letztlich löst sich alles in Wohlgefallen auf. Wir treffen uns neben dem Rathaus, bei Backfisch und Fassbrause. Richtige Fassbrause, nicht das Zeug, das heutzutage als solche verkauft wird. Wir streifen Jobs, Kollegen, die Reisen, die wir machten und wie es den Eltern geht. Wir schlendern wir am Wasser, auf der Alster rudern welche im Dunkeln an der beleuchteten Fontäne vorbei. Es ist warm und  es gibt noch Eis. Neben uns ein paar Schwäne, über uns Kraniche, die nach Süden ziehen. Und immer ein bisschen Wind. Wir haben gar kein Foto von uns gemacht, schreibt J. hinterher. Lass uns das beim nächste Mal tun bevor wir dement werden.

Samstag treffen mit A. Sie wird ihr Krankenschwester-Dasein im März unterbrechen, um ein 4-wöchiges Praktikum in einer Schloss-Verwaltung zu machen. A. stalkt seit Jahren alle Burgen und Schlösser, die sich so finden lassen. Ihr Mann fragt, was sie machen würde, wenn sie sie behalten wollen. Na, da bleiben, sagt sie. Wir wandern an unserem alten Institut vorbei, wo wir uns vor 25 Jahren kennengelernt haben. In der Straße entdecken wir ein Haus, das irgendwie sehr Rudolf-Steiner-mäßig aussieht und uns nie aufgefallen ist. Es ist wohl auch eins, wie mir kundige Personen auf Twitter mitteilen. Wir kaufen am Bahnhof Butterkuchen, da ich den im Süden schlecht bekomme – ebenso wie Grünkohl – und essen auf der Treppe vor dem CCH. A. möchte gerne nach Köln, den Melaten-Friedhof sehen, wir verabreden lose etwas für Dezember. Sie ist eine der wenigen Personen, die stundenlang reden können ohne mit damit auf die Nerven zu gehen. Auch unser Reise-Faible ist derselbe. Sie muss zur Schicht, ich noch ein paar Dinge besorgen. Hier ist alles eine Erfrischung für die Seele. Jedes Mal. Wie ich das immer vergesse, wenn ich wieder im Süden bin.

Den Rest des Tages faul im Hotel verbringen, Haare machen, Nägel machen, Tagebuch schreiben, Kekse essen, lesen. Eine wichtige Mail: Die Weiterbildung zur Erste-Hilfe-Ausbilderin startet im Januar. Eine shock(!)ierende Nachricht auf Facebook: Der Schockwellenreiter ist mit Schlaganfall im Krankenhaus. Ich mag gar nix bloggen.

112

Es passiert natürlich dann, wenn man es nicht erwartet. Ich wollte nur ein Softeis mit Schokoladenüberzug und grübelte gerade, wann ich das letzte Mal eines gegessen hatte. 

„Können Sie bitte einen Krankenwagen anrufen, meiner Freundin geht es nicht gut“.

„Was hat sie denn?“ frage ich deppert & denke noch ich muss das (C)ABCDE-Programm abspulen.

„Es geht ihr nicht gut, können Sie bitte einen Krankenwagen rufen?“

Das Adrenalin blockiert meinen Orientierungssinn, ich sollte eigentlich wissen, wo ich bin, zumindest weiß ich, dass der Ort das erste ist, wonach sie fragen werden. Die 4 (oder waren es 5?) W’s gibt es so nicht mehr, sondern nur noch 2: W(o) und W(arten auf Nachfragen).

„Wo sind wir hier?“, frage ich. „Spitalerstraße“. Ich weiß natürlich, dass ich gegenüber des Hauptbahnhofes bin, aber der Straßenname (den jeder kennt) ist einfach weg.

„Ja, also dann 112…“.

„Hier Feuerwehr Hamburg, bitte legen Sie nicht auf“ „Ja, Hallo – wo sind Sie?“. 

„Hauptbahnhof, Ecke Spitalerstraße“.

„Auf welcher Seite der Spitalerstraße?“

Die Frage verwirrt mIch, ich dachte, das wäre klar. Aber vielleicht hat er mich nicht verstanden.

„Ist da ein Nike-Laden?“, fragt der Mensch in der Leitung.

„Apollo… Ja, da ist ein Nike-Laden“.

Dann fängt er an, Symptome abzufragen. Schwindel? Schmerzen in der Brust? Sie hat ein Brennen in der Brust. Sie solle sich aufsetzen, jedenfalls mit erhöhtem Oberkörper. Nichts essen, nichts trinken, keine Medikamente.

„Wie könne wir Sie erreichen?“

„Sehen Sie nicht meine Nummer im Display?“

„Doch, können wir die nehmen?“

„Ja“.

„Wir schicken jemanden, wenn es schlimmer wird, rufen Sie bitte nochmal an“.

„Haben Sie gesagt, wie lange es dauert?“ fragt ihre Freundin.

„Nein, sage ich, aber meisten so 10-15 Minuten“.

Ich weiß, dass in Hamburg die gesetzliche Hilfsfrist bei 8-10 Minuten liegt, aber auch, dass das nicht immer machbar ist. Vielleicht sonntags schon. Ich bin unsicher, ob ich hätte lügen sollen. Da ihre Freundin bei ihr ist, ist meine Rolle irgendwie unklar. Normalerweise hätte ich die Patientin jetzt beruhigt und sage auch jetzt mehrmals: „Es kommt gleich jemand“. Abschirmen muss man am Hauptbahnhof nicht groß jemanden, hier könnten alle in Ruhe sterben, denke ich, ohne dass es irgendeinen interessieren würde.  Wahrscheinlich passiert das auch so. Mir fällt auf, wie lange einem die Zeit vorkommt und auch, dass man eigentlich gar nicht weiß, _was_ man dann eigentlich genau reden soll, wenn der Patient bei Bewusstsein ist. Ich denke die ganze Zeit, naja, sie ist bei Bewusstsein, dann ist es ja erst mal nicht soooo dramtisch, aber das kann ich natürlich nicht sagen. Auch die blöden Gedanken die man zwischendurch hat, wie „Verpasse ich meinen Zug?“. Ich winke dem Rettungswagen als er um die Ecke fährt. Als der erste Sanitäter aussteigt, fängt sie an zu weinen. Die Anspannung muss größer gewesen sein als ich dachte. „Wir sind gleich da“, sagt er. Ich kläre kurz, dass ich angerufen habe, beuge mich nochmal über sie uns sage: „Alles Gute für Sie“ und ziehe mich dann zurück. Brauche selbst noch ca. 30 Minuten um wieder runter zu kommen. Schreibe einer DLRG-Kollegin per WhatsApp. Ob es mir gut ginge, fragt sie, und wenn ich reden wolle, solle ich anrufen. So, wie es sein sollte.