112

Es passiert natürlich dann, wenn man es nicht erwartet. Ich wollte nur ein Softeis mit Schokoladenüberzug und grübelte gerade, wann ich das letzte Mal eines gegessen hatte. 

„Können Sie bitte einen Krankenwagen anrufen, meiner Freundin geht es nicht gut“.

„Was hat sie denn?“ frage ich deppert & denke noch ich muss das (C)ABCDE-Programm abspulen.

„Es geht ihr nicht gut, können Sie bitte einen Krankenwagen rufen?“

Das Adrenalin blockiert meinen Orientierungssinn, ich sollte eigentlich wissen, wo ich bin, zumindest weiß ich, dass der Ort das erste ist, wonach sie fragen werden. Die 4 (oder waren es 5?) W’s gibt es so nicht mehr, sondern nur noch 2: W(o) und W(arten auf Nachfragen).

„Wo sind wir hier?“, frage ich. „Spitalerstraße“. Ich weiß natürlich, dass ich gegenüber des Hauptbahnhofes bin, aber der Straßenname (den jeder kennt) ist einfach weg.

„Ja, also dann 112…“.

„Hier Feuerwehr Hamburg, bitte legen Sie nicht auf“ „Ja, Hallo – wo sind Sie?“. 

„Hauptbahnhof, Ecke Spitalerstraße“.

„Auf welcher Seite der Spitalerstraße?“

Die Frage verwirrt mIch, ich dachte, das wäre klar. Aber vielleicht hat er mich nicht verstanden.

„Ist da ein Nike-Laden?“, fragt der Mensch in der Leitung.

„Apollo… Ja, da ist ein Nike-Laden“.

Dann fängt er an, Symptome abzufragen. Schwindel? Schmerzen in der Brust? Sie hat ein Brennen in der Brust. Sie solle sich aufsetzen, jedenfalls mit erhöhtem Oberkörper. Nichts essen, nichts trinken, keine Medikamente.

„Wie könne wir Sie erreichen?“

„Sehen Sie nicht meine Nummer im Display?“

„Doch, können wir die nehmen?“

„Ja“.

„Wir schicken jemanden, wenn es schlimmer wird, rufen Sie bitte nochmal an“.

„Haben Sie gesagt, wie lange es dauert?“ fragt ihre Freundin.

„Nein, sage ich, aber meisten so 10-15 Minuten“.

Ich weiß, dass in Hamburg die gesetzliche Hilfsfrist bei 8-10 Minuten liegt, aber auch, dass das nicht immer machbar ist. Vielleicht sonntags schon. Ich bin unsicher, ob ich hätte lügen sollen. Da ihre Freundin bei ihr ist, ist meine Rolle irgendwie unklar. Normalerweise hätte ich die Patientin jetzt beruhigt und sage auch jetzt mehrmals: „Es kommt gleich jemand“. Abschirmen muss man am Hauptbahnhof nicht groß jemanden, hier könnten alle in Ruhe sterben, denke ich, ohne dass es irgendeinen interessieren würde.  Wahrscheinlich passiert das auch so. Mir fällt auf, wie lange einem die Zeit vorkommt und auch, dass man eigentlich gar nicht weiß, _was_ man dann eigentlich genau reden soll, wenn der Patient bei Bewusstsein ist. Ich denke die ganze Zeit, naja, sie ist bei Bewusstsein, dann ist es ja erst mal nicht soooo dramtisch, aber das kann ich natürlich nicht sagen. Auch die blöden Gedanken die man zwischendurch hat, wie „Verpasse ich meinen Zug?“. Ich winke dem Rettungswagen als er um die Ecke fährt. Als der erste Sanitäter aussteigt, fängt sie an zu weinen. Die Anspannung muss größer gewesen sein als ich dachte. „Wir sind gleich da“, sagt er. Ich kläre kurz, dass ich angerufen habe, beuge mich nochmal über sie uns sage: „Alles Gute für Sie“ und ziehe mich dann zurück. Brauche selbst noch ca. 30 Minuten um wieder runter zu kommen. Schreibe einer DLRG-Kollegin per WhatsApp. Ob es mir gut ginge, fragt sie, und wenn ich reden wolle, solle ich anrufen. So, wie es sein sollte.